114 Stunden Nussschale

Vor mehr als 20 Jahren flohen sie vor einem Regime, heute sind sie am Niederrhein zu Hause: süd-vietnamesische Flüchtlinge. Einer von ihnen erzählt von den Gefahren der Flucht und vom Neubeginn in Gladbach.





400 Mitglieder der vietnamesischen
Flüchtlingsgemeinschaft feiern Neujahr.
Foto: Isabella Raupold

 

Vor mehr als 20 Jahren flohen sie vor einem Regime, heute sind sie am Niederrhein zu Hause: süd-vietnamesische Flüchtlinge. Einer von ihnen erzählt von den Gefahren der Flucht und vom Neubeginn in Gladbach.



400 Mitglieder der vietnamesischen Flüchtlingsgemeinschaft feiern Neujahr.
Foto: Isabella Raupold

 

 

Für sie begann in Gladbach und Umgebung ein neues Leben: Die etwa 400 Mitglieder der vietnamesischen Flüchtlingsgemeinschaft am Niederrhein fühlen sich heute wohl in Deutschland – aber freiwillig kamen sie nicht hierher, damals, vor über 20 Jahren. Flüchtlinge aus Süd-Vietnam waren sie, viele hatten auf der langen Reise an den Niederrhein Furchtbares mitgemacht. Am Samstag bei ihrem Neujahrsfest in der Marienschule feierten sie daher auch Dr. Rupert Neudeck, dessen Frachter „Cap Anamur“ viele von ihnen rettete.

 

Umerziehungslager

 

Vincent Nguyen hatte damals Glück – findet er. Als 36-Jähriger floh er, wie Tausende andere, vor den nordvietnamesischen Truppen, als diese 1975 einmarschierten. Das hieß: Überwachungsstaat, ständige Bedrohung, Umerziehungslager. „1981 sind wir über das Meer geflohen“, erzählt Nguyen. „Meine vier Kinder waren dabei, die jüngste Tochter gerade zehn Monate alt.“ Die Fahrt dauerte sechs Tage, „114 Stunden auf dem Wasser.“ Wieso weiß er das so genau – hat er mitgezählt? „Jede einzelne. Sie müssen wissen: Es war ein typisches Fischerboot, 13 Meter lang und zweieinhalb Meter breit, darauf drängten sich 101 Menschen.“

 

„Boat people“ nannte man die Flüchtlinge. Etliche ihrer seeuntüchtigen Nussschalen kenterten in Stürmen, sie wurden von Piraten überfallen, ihrer Vorräte, ihrer Besitztümer beraubt, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Deswegen spricht Nguyen von Glück: „Nach den 114 Stunden wurden wir von einem Schiff aufgenommen. Es hieß Cap Anamur.“

Mit dem berühmten Rettungs-Frachter gelangte die Familie nach Deutschland und schließlich, wie 1500 weitere Vietnamesen, nach Mönchengladbach. Wie war sein Eindruck von der Stadt und ihren Menschen? „Sowohl die Stadt als auch die katholische Kirche haben uns sehr geholfen. Das Sozialamt hat eine Wohnung beschafft, vom Arbeitsamt bekam ich eine Umschulung zum Schlosser – in Vietnam habe ich Busse gefahren. Hier habe ich jetzt 21 Jahre in einer Gladbacher Firma gearbeitet.“

 

Er habe von Neudeck, dem Gründer des Hilfskomitees, viel gelernt, fügt Nguyen hinzu. Mehr möchte der bescheidene Mann nicht sagen. Ton-Vinh Trinh-Do, ein Freund, erzählt jedoch, dass Nguyen sich seit Jahren sozial und kulturell engagiert, häufig mit Neudeck zusammen. Er hat Spenden zum Beispiel für Kosovo-Flüchtlinge gesammelt, Kulturprojekte wie Deutschkurse für seine Landsleute unterstützt. Er vertritt die vietnamesischen Katholiken Deutschlands und erhielt für sein herausragendes Engagement bereits eine Urkunde von Papst Johannes Paul II. und das Bundesverdienstkreuz von Horst Köhler.


Quelle: rp-online.de
von Karen Görner