Erzählungen von vietnamesischen Boat People, die niemand kennt

Als ich zu einem Wiedersehenstreffen von ehemaligen vietnamesischen Flüchtlingen in Saigon eingeladen wurde, erwartete ich ein kleines Mittagsessen unter Menschen, denen es in ihrer neuen Heimat gut ging. Menschen, die nach dem Fall Saigons aus Vietnam geflohen waren. Sie hatten ihr Leben in schäbige Fischerboote gelegt um politischen und wirtschaftlichen Missständen zu entkommen. Ich stellte mich darauf ein ihren Erfolg im Ausland wie in Amerika, Kanada, Australien und in vielen anderen Aufnahmeländern, in denen Asylbewerber angenommen werden, zu dokumentieren. Aber nicht alle Flüchtlinge fanden ein neues Zuhause. Zum anstehenden Wiedersehenstreffen nach über 20 Jahren kamen Flüchtlinge, die im Ausland kein Asyl bekommen hatten und zurück geschickt worden waren. Die erste Welle von Bootsflüchtlingen wurde weitgehend von den Aufnahmeländern akzeptiert. Doch gegen Ende der 80er Jahre, als die Anzahl der Flüchtlinge weiterhin anstieg, die Hilfsmittel knapper wurden und die Aufnahmeländer ihre Politik änderten, verabschiedete der UN-Flüchtlingsausschuss neue Gesetze um die Anzahl der Boat People zu verringern. Neue Prüfverfahren wurden entwickelt um zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden, wodurch viele Flüchtlinge wieder in die Heimat abgeschoben wurden. Diese Prüfverfahren waren auch Gegenstand von Korruption und Bestechung, ganz besonders nachdem der UNHCR sich zurückgezogen und die Autorität den lokalen indonesischen Beamten überlassen hatte. Mitte der 90er waren Flüchtlingslager kurz vor dem Schließen, Proteste fanden statt und Menschen wurden verhaftet. Das Galang Flüchtlingslager, welches eines der größten in Indonesien gewesen war, wurde 1996 geschlossen und Menschen kehrten nach Vietnam zurück – sowohl freiwillig als auch zwangsweise. Dies sind ihre Geschichten.


Chanh:
Ich stand vor einem belebten Markplatz als die Sonne Saigons rasch unterging. Ich war mir nicht vollkommen sicher, ob ich mich an dem richtigen Ort befand. Auf Adressen und Nummern kann man sich in Vietnam sowieso nicht immer verlassen. Doch wie aus dem Nichts erschien Chanh mit einer Tüte Banh Mi in der Hand und zeigte auf eine kleine Gasse. Ich ging an seinem bescheidenen Zuhause vorbei ohne zu bemerken, dass es überhaupt ein Zuhause war. Käfige mit Hühnern waren im ganzen Eingangsbereich und in den Nebenräumen zu finden – sogar unter dem Waschbecken und dem Ofen. Eine dürre Katze miaute unter seinem Bett als wir uns auf Chanhs iPad alte Fotos von ihm auf Galang anschauten.

Vor seiner Seereise war Chanh – nach eigenen Angaben – ein stattlich-gebauter Mann, welcher auf dem Bau arbeitete. Es war nicht sein sehnlichster Wunsch Vietnam zu verlassen. Da jedoch sein Bruder die Flucht organisierte, wurde er gefragt die Reisenden zum Boot zu führen. Ohne viel Bedenken ging er selbst an Bord und erlebte eine harte Seefahrt. Es gab nur zwei Container mit Wasser, die restlichen beinhalteten Benzin. Da Wasser sehr knapp war, hatte er keine Wahl als sein eigenes Urin zu trinken um Dehydration zu vermeiden. Dies war nur der Anfang von dem Leiden, das viele Flüchtlinge ertragen mussten.

Als er auf der Insel ankam, nahm er jeden Job an, der sich ihm anbot, dazu gehörten auch Arbeiten auf dem Feld und dem Bau. Er zog auch Kampfhähne heran, die später jedoch von den Behörden verboten wurden. Eines Tages kamen Beamte in seine Hütte, beschuldigten ihn wegen Mordes und warfen ihn für zwei Monate ins Gefängnis. Als er freikam, hatte seine Freundin bereits einen anderen Mann kennengelernt. Diese Reihe von entsetzlichen Ereignissen machten aus Chanh einen desillusionierten und todunglücklichen Mann. In einem leidvollen Moment versuchte er sich einen Finger abzuschneiden. Nachdem dieser wieder angenäht worden war, hatte Chanh große Schmerzen und niemand wollte eine Operation durchführen. Und so beschloss er mit Hilfe eines Freundes, es selbst in die Hand zu nehmen und schnitt auch den Rest des Fingers ab. Um eine Infektion vorzubeugen, nähte er sich die Wunde selbst zu. Nachdem er vier Jahre lang unter diesen Umständen auf der Insel gelebt hatte, unterzeichnete er freiwillig die Dokumente, die ihn wieder zurück nach Vietnam brachten.

Dort angekommen, nahm er an verschiedenen von der UN geförderten Berufsausbildungsprogrammen von Autofahren bis mechanischer Arbeit teil. Dennoch konnte er nie eine Tätigkeit finden, die ihn für eine längere Zeit band, und so schlug er sich mit Bauarbeiten und Hühnerzucht die letzten 20 Jahre durch. Trotz der schlechten Zustände glaubte Chanh, dass seine Rückkehr nach Vietnam kein Fehler gewesen wäre. Während des Gesprächs machte er klar, dass er Zufriedenheit gefunden hätte beim Führen eines einfachen Lebens. Sein neues iPad leistete einen großen Dienst in seinem einfachen Leben. Mit seiner Hilfe konnte er Kontakt mit alten Freunden von Galang aufnehmen und Tanzschritte lernen, die er mit Freude beim Wiedersehenstreffen vorgeführt hatte. 


Phuong:
Im Bus von Phnom Penh nach Saigon saß Phuong direkt neben mir. Sie bemerkte, dass ich Schwierigkeiten mit meinem Mobiltelefon hatte (ich trug meine Brille nicht) und bot ihre Hilfe an, woraus eine sieben Stunden lange Diskussion entstand. Einige Wochen später traf ich Phuong wieder und wir schauten uns die Wohngegend an, in der sie früher gelebt hatte.

Wie viele andere nach 1975, verfielen ihre Mutter und zwei jüngere Schwestern in große Armut. Da sie kein Geld für eine Unterkunft besaßen, blieb ihnen nichts anderes übrig als auf den Treppen einer Kirche zu schlafen, wo sie keinerlei Schutz vor dem Wetter hatten. Über die Jahre nahm Phuong jede erdenkliche Arbeit an. Auch das Waten durch Schlamm um Rattanpalmen abzuschneiden gehörte dazu. Als ihr Ehemann mit rechtlichen Problemen zu kämpfen hatte, verpfändete sie sein Motorrad für den Kauf eines Boottickets. Zusammen mit einer jüngeren Schwester, erreichten sie und ihr Mann Galang, wo sie einen Sohn bekamen. Obwohl Phuong es über den Ozean geschafft hatte, fiel sie durch das Asyl-Aufnahmeverfahren. Als die Papiere ihrer Schwester bearbeitet wurden, bekam Phuong glücklicherweise eine Zusage von Finnland.

Einige Monate später wurde ihr angeboten als Vormund für ihre jüngere Schwester gefördert zu werden. Wenn sie allerdings die Insel verlassen würde, dann wäre es für ihre Mutter und ihre zwei anderen Schwestern in Vietnam nicht möglich gewesen, sich neu niederzulassen. Würde Phuong hingegen nach Vietnam zurückkehren, bekäme ihre Familie weiterhin finanzielle Unterstützung. Am Ende entschied sie sich ihrer Familie zu helfen und kehrte nach Vietnam zurück, wo sie sechs Monate später – verlassen und allein – sich als Alleinerziehende mit Gelegenheitsjobs durchschlug. Bei einem dieser Jobs musste sie durch Hundelöcher kriechen um sich so in den Saigoner Zoo zu schmuggeln um Zigaretten zu verkaufen.

Bis zu diesem Tag ist ihr Leben mit Leiden und Strapazen verbunden und ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag ihre erstaunliche Reise ein wenig würdigen kann.


Phong:
Als ich zum ersten Mal Phong und seine Frau traf, fanden sie mich auf Anhieb sympathisch und luden mich zu ihnen nach Hause ein. Sie machten Scherze darüber wie sie buchstäblich die letzten gewesen waren, die Galang verlassen hatten.

Die beiden trafen sich in einer Küstenstadt in der Nähe von Vung Tau. Er war von einer Familie in Südvietnam adoptiert worden, die aufgrund des Ausgangs des Krieges mit politischen als auch wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Mit der Hoffnung auf eine Gelegenheit zu flüchten, arbeitete er ohne Lohn als Seemann. Nach dem Regierungswechsel musste er als Mitglied dieser Familie oft gewissen Schwierigkeiten entgegentreten. So war es zum Beispiel für ihn nicht möglich die Geburtsurkunde seiner Tochter zu erhalten. Daher musste er den Namen seines Freundes als Vater angeben.

Schließlich konnte er eine Chance zur Flucht wahrnehmen und kam wenig später auf Galang an. Dort sahen er, seine Frau und ihre zwei Kinder sich mit unangenehmen Situationen konfrontiert. Die Unterkünfte bestanden aus langen, provisorischen Baracken, die nur von Holzbohlen gestützt waren und viele Menschen beherbergten. In so einer Gemeinschaftsunterkunft gab es keine Privatsphäre und die Familienstruktur ging verloren. Phong und seine Familie kauften sich schließlich eine eigene Hütte und zogen ein.

Nach vier Jahren auf der Insel wurde ihr Asylantrag abgelehnt. Phong und seine Frau nahmen an lager-übergreifenden Protesten teil, in welchen auch Hunger- und Sitzstreiks durchgeführt wurden. Zwei Menschen nahmen sich das Leben indem sie den Feuertod starben um so als extremes Mittel gegen die furchtbaren Lebensbedingungen zu protestieren. Am Ende kam das indonesische Militär und verhaftete die aggressiven Hauptdemonstranten. Da Phongs Ehefrau energisch protestierte, wurde auch sie festgenommen.

Phong folgte seiner Frau auf die Insel Pinang und die Familie verbrachte fast zwei Jahre im Gefängnis. Den Schilderungen seiner Frau zufolge musste sie nachts auf das Dach der Haftanstalt klettern, um von dort in die Stadt zu gelangen um zusätzliches Essen für ihre Familie zu erbetteln. Die indonesischen und chinesischen Ortsansässigen waren sehr großzügig zu ihr. Letztendlich wurden sie gezwungen nach Vietnam zurückzukehren.

Phong behauptet bis heute, dass sein Leben als Rückkehrer aus Zwang seine gesellschaftliche Stellung negativ beeinflusst habe. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit dem Verkauf von allen möglichen Waren, die er auf dem Markt bekommt. Phong und seine Frau glauben, dass ihre Vergangenheit sie immer noch verfolge und auch auf die einfachsten Tätigkeiten – wie das Erwerben von Land – negativ auswirke.


Thuc:
Als Thuc an meinen Tisch auf dem Wiedersehenstreffen herantrat, wussten die Leute neben mir sofort, wer er war. Jemand flüsterte mir zu, dass er einer von den drei Demonstrantengewesen war, die gegen ihr gescheitertes Asyl-Aufnahmeverfahren durch Selbstverletzung mit dem Messer protestiert hatte. Ich war mir nicht sicher, was genau das bedeutete, bis er ohne zu zögern sein Hemd hochzog und mir die Narben zeigte.

Einige Tage später liefen wir zusammen durch eine Gasse zu seinem Haus und ich war sehr erstaunt. Es war eines der größten Anwesen, die ich in Vietnam jemals gesehen hatte. Wenngleich es offensichtlich ist, dass er seit seiner Zeit auf Galang es weit gebracht hat, trägt Thuc immer noch die drückende Last der Erinnerungen auf seinen Schultern.

Nachdem sein Vater von den Umerziehungslagern zurückgekommen war, hatte er die Möglichkeit nach USA zu gehen, da er während des Krieges unter den Amerikanern gedient hatte. Während sein Vater sich weigerte zu emigrieren, war Thuc dennoch entschlossen das Land zu verlassen. Seine Arbeit als Nudelhersteller schränkte ihn äußerst ein. Obwohl er zahlreiche Male versuchte zu flüchten, wurde er jedes Mal von der Polizei gefasst und zurück nach Hause geschickt.

Nach unzähligen Versuchen gelang es ihm schließlich doch. Auf dem Fluchtboot musste er jedoch miterleben, wie ungerecht die Essensaufteilung unter den Flüchtlingen ablief. Die Besatzung erhielt viel gesündere Teile der Yambohne und mehr Wasser als er und die anderen Passagiere. Es wurde dann schließlich so schlimm, dass ein Mann, der eine Handgranate bei sich trug, damit drohte das gesamte Boot in die Luft zu sprengen wenn die Situation nicht besser werden würde. Glücklicherweise wurden sie nach der zweiten Nacht von einem panamaischen Schiff aufgefischt, das in Richtung Holland fuhr. Diese Tat war eher ungewöhnlich, da der Großteil der Schiffe, nach der Änderung der internationalen Regelungen gegenüber Boat People, keine Flüchtlinge mehr aufnahm. Der Kapitän des Schiffs stellte sie vor die Wahl der Crew nach Holland zu folgen oder auf Galang abgesetzt zu werden. Thuc wäre jeder Ort recht gewesen. Er wollte nur runter vom Schiff und den harten Lebensumständen auf hoher See entfliehen. Die Mehrheit seiner Seegefährten wollte jedoch dahin, wo sie von ihren Angehörigen empfangen werden würde. Doch sobald sie indonesischen Boden betraten, bereuten sie ihre Entscheidung.

Ein paar Jahre später fiel Thuc durch das Asyl-Aufnahmeverfahren, obwohl seine Papiere seines Vaters Rolle während des Krieges, welche ihm den Status eines politischen Flüchtlings zugestand, bewiesen. Der indonesische Beamte, der ihn befragte, glaubte ihm nicht und hielt seine Papiere für Fälschungen. Nachdem der UNHCR den indonesischen Beamten die Verantwortung übertragen hatte, hatten laut Thuc diese sogenannten „Papas“ die Befugnis jeder beliebigen Person einen Neubesiedlungsschein zu erteilen, solange sie eine bestimmte Prozentzahl nicht überschritten. Dies führte dazu, dass viele vietnamesische Frauen sich den Papas an den Hals warfen. Andere wiederum, die diese Frauen kannten, versuchten durch Bestechung der Papas selbst an einen dieser Scheine zu kommen. So schoss der Startpreis von 1.000$ für ein Ticket schnell hoch auf 10.000$. Soviel Geld besaß Thuc jedoch nicht. Und so schmiedeten er und zwei weitere Personen aus Protest einen Plan. Während des anstehenden Besuchs eines Bischofs aus dem Vatikan wollten sie dem Geistlichen einen Beschwerdebrief überreichen und währenddessen sich selbst mit einem Messer verletzen. Unglücklicherweise schaffte Thuc es nicht bis zur Spitze des Hügels zu gelangen, auf dem die Kirche stand, in der der Bischof sich befand. Er fiel auf halber Strecke in Ohnmacht, umzingelt vom Sicherheitsdienst. Er wurde für eine Operation auf eine andere Insel gebracht, nachdem festgestellt worden war, dass das Messer sehr tief saß und die Leber verletzte. Irgendwann willigte er schließlich ein nach Vietnam zurückzukehren, da er befürchtete in den Camps umzukommen.

Am Tag seines Rückkehrs traf er auf viele Viet Kieu – so werden Exilvietnamesen genannt – die zum anstehenden vietnamesischen Neujahrsfest ebenfalls nach Vietnam zurückkehrten. Ein Grenzbeamter forderte ihn und seine Gruppe von Rückkehrern auf Platz für die Viet Kieu zu machen, die oft als Menschen, die ihr Heimatland liebten, angesehen wurden. Es ist schon ziemlich ironisch, dass diejenigen, denen die Flucht gelungen ist und es zu etwas gebracht haben, als Helden angesehen werden, während diejenigen, die nach der Flucht gescheitet sind, als Verräter verurteilt werden.

Bis zum heutigen Tag will Thuc auswandern. Diese Antwort kam sehr überraschend, da es für mich so aussah, als würde er im Vergleich zu den vielen anderen Vietnamesen einen kultivierten Lebensstil führen. Er hat einen sicheren Job und befindet sich in einem warmen familiären Umfeld – doch er fühlt sich immer noch nicht wohl. Als ich ihn fragte, warum er sich denn so fühlte, gab er folgende Antwort: Weil seinetwegen seine Familie so viel verloren hätte, würde alles, was er sah, keine Rolle für ihn spielen. Was ihm wichtig sei, wäre nicht reich oder arm zu sein, sondern sich wohl zu fühlen.


Diese Erzählungen sind nur wenige Beispiele von den vielen Leben, Bürden und Erlebnissen, die die Vietnamesen und alle Flüchtlinge tagtäglich mit sich tragen. Die Vergangenheit wird für sie niemals in Vergessenheit geraten. Wenn jedoch niemand ihre Geschichten dokumentiert oder festhält, dann werden ihre Erlebnisse für den Rest von uns für immer verloren gehen. Die vietnamesischen Flüchtlinge haben sich in die amerikanische Kultur sehr gut integriert. Pho und Banh Mi sind Grundnahrungsmittel in jeder großen Stadt. Es gibt zahlreiche Erfolgsgeschichten über vietnamesische Flüchtlinge. Aber wir sollten niemals diejenigen vergessen, die nicht so viel Glück hatten.

Ich möchte einen besonderen Dank an alle aussprechen, die mir dabei geholfen haben diese Dokumentation zu verwirklichen; angefangen bei den Personen, die freundlicherweise ihre Geschichten, Fotos und Poesie mit uns teilen, bis hin zu den Freunden, die mir beim Übersetzen geholfen haben. Und ich bedanke mich bei Ihnen fürs Lesen und Anschauen.


Quelle:
http://www.huffingtonpost.com/entry/untold-stories-of-the-vietnamese-boat-people_us_58d176a2e4b00705db536ced