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Nachruf in Erinnerung an Nguyễn Chí Thiện



Nguyễn Chí Thiện, dessen Gedichte den Mächtigen die Wahrheit sagten, aus einer Zelle heraus, starb im Alter von 73 Jahren

Am schwersten zu ertragen war nicht die Isolation, obwohl sie fast drei Jahrzehnte andauerte. Es war auch nicht die Kälte in der Zelle, wo er oft nackt angekettet wurde, oder die glühende Hitze im Sommer, oder die rostigen Fesseln, an denen sich seine Füße entzündeten, oder der ständige Hunger.

Es war, so sagte Nguyễn Chí Thiện später, dass er keinen Zugang zum geschriebenen Wort hatte: Keine Bücher, keine Zeitungen, und, für einen Dichter noch ärgerlicher, nicht einmal ein Bleistift und ein Fetzen Papier.

ngueyn chi thienEr schrieb dennoch, schuf Liebeslieder, Protestgeschrei und Hunderte andere Gedichte - etwa 700 insgesamt - jedes einzelne verfasst, geändert und abgelegt einzig und allein in seinem Kopf, für eine Nachwelt, an die er fest glaubte.

Herr Thiện, ein regimekritischer Dichter, der aufgrund der vielen gegen das kommunistische Regime gerichteten Werke als der Solschenizyn Vietnams bezeichnet wurde - auch wegen der langen Haft mit Folter und Isolation, die er für seine Mühen erhielt - verstarb am 02.10.2012 in Santa Ana, Kalifornien, im Alter von 73 Jahren.

Die offensichtliche Todesursache war seine Atemwegserkrankung, sagte Jean Libby, eine Freundin, die englische Übersetzungen seiner Werke herausgegeben hat. Herr Thiện, der 1995 das Land verlassen durfte und 2004 US-Bürger wurde, hatte jahrelang an einem Emphysem gelitten und war beinahe sein ganzes Leben lang an Tuberkulose erkrankt.

Seine Gesundheit war in den 27 Jahren in vietnamesischen Gefängnissen und Arbeitslagern zerstört worden; er verbrachte auch sechs Jahre im „Hanoi Hilton" - der Name, eine bittere Ironie, wurde von gefangenen US-Soldaten dem Hỏa Lò-Gefängnis verliehen.

Herrn Thiệns Odyssee begann an einem ganz normalen Tag im Jahr 1960, nachdem er versucht hatte, vor einer Schulklasse die von den Kommunisten verfälschte Geschichte zu korrigieren. In den 80ern und 90ern war sein Fall international bekannt geworden. Unter anderem setzten sich die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und Schriftstellervereinigung PEN für ihn ein.

Herr Thiện galt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter Vietnams und wurde oft in literarischen Kreisen als Kandidat für den Nobelpreis für Literatur genannt. Von den 700 Gedichten, die er im Gefängnis verfasste, „können 70 bis 100 als Meisterwerke in unserer Sprache angesehen werden", so Nguyễn Ngọc Bích, einer der Übersetzer, in einem Telefoninterview.

Herrn Thiệns bekanntestes Werk, der Verszyklus „Blumen aus der Hölle" - den er während eines seiner kurzen Aufenthalte in Freiheit jemandem aus dem Westen in die Hand drücken konnte, unter hohen persönlichem Opfern - wurde in den USA 1984 in englischer Sprache veröffentlicht und seitdem in viele andere Sprachen übersetzt.

In einem Gedicht aus dieser Sammlung, verfasst 1970 in einem Gefangenenlager, schreib Herr Thiện:

Meine Gedichte sind nicht nur Gedichte, nein,
sondern der schluchzende Klang eines Lebens,
das Zuschlagen der Türen in einem dunklen Gefängnis,
das Keuchen zweier armer kranker Lungen,
der Klang der Erde, mit der Träume begraben werden,
das Klappern der Zähne in der Kälte,
der Hungerschrei eines verkrampften Magens,
die hilflose Stimme vor so vielen Wracks.
Alle Klänge eines halb gelebten Lebens,
eines halb gestorbenen Todes - keine Gedichte, nein.

Trotz seiner Berühmtheit verbrachte Herr Thiện seine letzten Lebensjahre ruhig in der vietnamesischen Diaspora in Orange County, Kalifornien, genannt Little Saigon. Er bewohnte möblierte Zimmer und zum Schluss eine Sozialwohnung in Santa Ana, wo er las, schrieb, und Vorträge hielt. Er brachte politische Beiträge im vietnamesisch sprachigen Rundfunk und Fernsehen überall in den USA. Er lebte bescheiden, teilweise angewiesen auf öffentliche Beihilfen und private Unterstützer, und er konnte sich keine Krankenversicherung leisten.

„Er führte ein äußerst asketisches Leben", sagte Herr Bích. Er interessierte sich so wenig für Geld, dass er, wenn er irgendwo einen Vortrag halten sollte und die Leute Geld für ihn sammelten, meistens ablehnte. Er sagte: „Gebt es anderen, die es nötiger haben als ich."

Als jüngstes Kind einer Familie des Mittelstandes wurde Nguyễn Chí Thiện am 27. Februar 1939 in Hanoi geboren. Er entschloss sich früh, ein Schriftsteller zu werden, was in Vietnam damals in der Regel bedeutete, ein Dichter zu werden.

„Die Dichtkunst spielt in der vietnamesischen Literatur eine überragende Rolle“, sagte Herr Bích. „So überragend, dass bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und sogar noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa 95 % der vietnamesischen Literatur aus Gedichten bestand. Wir haben Geschichtsbücher, die komplett in Gedichtform geschrieben sind."

In so einer Kultur ist die subversive Kraft der Gedichte enorm, und in den Händen von Herrn Thiện wurden sie zur gefährlichen Waffe.

Der weitere Verlauf von Herrn Thiệns Leben wurde 1954 festgelegt, nachdem sein Heimatland in Nord- und Südvietnam aufgeteilt wurde. Seine Eltern, die daran glaubten, dass die kommunistischen Anführer gut für das Land wären, beschlossen, mit der Familie in Hanoi zu bleiben.

Die politischen Probleme des jungen Herrn Thiện begannen 1960, als er zusagte, einen erkrankten Freund zu vertreten, der in einer Schule Geschichte unterrichtete. Ihm fiel auf, dass im Schulbuch fälschlicherweise behauptet wurde, die Sowjets hätten die Kapitulation der Japaner im Zweiten Weltkrieg bewirkt.

Herr Thiện erzählte der Klasse, dass Japan tatsächlich kapituliert hatte, nachdem die USA Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten. Kurz darauf wurde er verhaftet.

Er wurde ohne Gerichtsverfahren zu 3 1/2 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Damals begann er, im Kopf Gedichte zu verfassen.

Nach seiner Freilassung im Jahr 1964 arbeitete Herr Thiện als Maurer und rezitierte seine Gedichte heimlich vor guten Freunden. 1966 wurde er wieder verhaftet, da er verdächtigt wurde, diese Gedichte geschrieben zu haben, die mündlich in Hanoi und Umgebung weitergegeben wurden. Er verbrachte fast zwölf Jahre in nordvietnamesischen Umerziehungslagern, wieder ohne Gerichtsprozess.

„Er hätte jederzeit gehen können, dazu hätte er nur unterschreiben müssen, dass er im Unrecht war und der Kommunismus richtig war", sagte Frau Libby. „Sie boten es ihm an, wenn er sagte, dass Hồ Chí Minh ein Held ist und der Kommunismus das Paradies." Herr Thiện unterschrieb nicht.

1977, zwei Jahre nachdem Saigon an die Kommunisten fiel, wurde Herr Thiện zusammen mit vielen anderen politischen Gefangenen entlassen: Hanoi wollte in den Gefängnissen Platz schaffen für Tausende von südvietnamesischen Offizieren, die damals inhaftiert wurden.

Er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verhaftung groß war, und er war nicht sicher, so sagte er später, ob er eine dritte Haft überstehen würde. Er fürchtete, sein Werk werde mit ihm sterben.

Heimlich brachte er so viele Gedichte, wie er im Kopf hatte, zu Papier - etwa 400 - und dafür brauchte er vier Tage. Er brachte das Manuskript zur britischen Botschaft in Hanoi, wo er es schaffte, an den Wachen vorbei hineinzugelangen.

Er bat die britischen Beamten dort um Asyl, das sie ihm nicht gewähren konnten. Er bat sie, dafür zu sorgen, dass seine Gedichte in den Westen gelangten, und das sicherten sie ihm zu.

Als er die Botschaft verließ, wurde Herr Thiện verhaftet und zum dritten Mal ohne Gerichtsverfahren eingesperrt. Er verbrachte sechs Jahre in Hỏa Lò, drei davon in Einzelhaft, anschließend noch einmal sechs Jahre in Gefangenenlagern.

Ohne dass er davon wusste, ging sein Manuskript damals um die Welt, es wurde in Großbritannien und in den USA von Hand zu Hand weitergereicht. 1984 veröffentlichte es der Rat für Südostasienstudien und der Universität Yale unter dem Titel „Blumen aus der Hölle", übersetzt von Huỳnh Sanh Thông.

Im nächsten Jahr gewann das Buch den Internationalen Dichterpreis von Rotterdam, der Herrn Thiện in Abwesenheit verliehen wurde.

„Niemand wusste, wo er war", sagte Frau Libby. „Man wusste nicht, ob er noch am Leben war oder schon tot."

Diese Auszeichnung machte Menschenrechtsgruppen auf Herrn Thiện aufmerksam, die mithalfen, ihn zu finden, und die sich für ihn einsetzten. Er wurde 1991 aus dem Gefängnis entlassen, da wog er nur noch 40 Kilo. Nachdem er die nächsten vier Jahre unter Hausarrest in Hanoi verbracht hatte, durfte er in die USA ausreisen.

Herr Thiện hat nie geheiratet. „Er hatte einige Liebschaften, und sie liebten ihn auch“, sagte Herr Bích. Aber dann im Gefängnis schrieb er Gedichte mit der Aussage „sie sollen ihn vergessen, denn sie werden nie wissen, wann er wieder draußen ist."

Zu seinen Hinterbliebenen zählen ein Bruder, Nguyễn Công Giân, und eine Schwester, Nguyễn Thị Hoàn.

Herrn Thiệns Werke in englischer Sprache umfassen „Blumen aus der Hölle" (1996), ein zweibändiges Werk, das von Herrn Bích übersetzt und herausgegeben wurde. Dazu gehört eine Neuübersetzung der Werke von 1984 plus einen weiteren Verszyklus, der aus mehreren Hundert Gedichten besteht, sowie die „Hỏa Lò/ Hanoi Hilton Geschichten", ein Band mit Kurzgeschichten, herausgegeben vom Rat für Südostasienstudien im Jahr 2007.

Heute sind seine Gedichte auch in französischer, spanischer, deutscher, niederländischer, tschechischer, koreanischer und chinesischer Sprache erhältlich. In Vietnam sind sie weiterhin nicht verfügbar.

Schließlich erreichte Herrn Thiệns Werk die Nachwelt, so wie er es sich lange Zeit erträumt hatte. Es war diese Hoffnung, der er sich in "Sollte jemand fragen" (verfasst 1976 in einem Gefangenenlager) hingab:

Sollte jemand fragen was ich mir im Leben erhoffe
wissend, dass ich im Gefängnis bin, würde man sagen:
Freilassung!
Wissend, dass ich hungrig war, würde man sagen:
Essen und Wärme!
Nein, nein, ihr irrt euch, denn in einem kommunistischen Land
ist das alles eine Schimäre
wer das erhofft
muss vor dem Feind knien.
Ich habe nur meine Gedichte in meiner Brust,
und zwei papierdünne Lungen
um den Feind zu bekämpfen, kann ich kein Feigling sein.
Und um ihn zu besiegen, muss ich tausendmal den Herbst erleben!


Quelle:
http://www.nytimes.com/2012/10/08/arts/nguyen-chi-thien-vietnamese-dissident-poet-dies-at-73.html?pagewanted=all


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